Liebe Freundinnen und Freunde des KulturForums,
ein weiterer Monat im Spannungsverhältnis zwischen zivilgesellschaftlichem Widerstand und zunehmendem Autoritarismus liegt hinter der Türkei. Neun Monate vor der wegweisenden Wahl wurde im türkischen Parlament ein Gesetz gegen Desinformation verabschiedet. Bei Verstößen drohen drastische Haftstrafen – wie genau Fälle von „Desinformation“ definiert werden, bleibt dabei jedoch schwammig. Dies lässt bei Journalistenverbänden die Alarmglocken läuten. Sie sehen in den Regelungen ein weiteres Instrument, das die Grenzen des Sagbaren in Richtung der Regierungsideologie verschiebt. In einer gemeinsamen Erklärung verurteilten die großen Verbände die Vorlage scharf als Zensurgesetz.
Warum diese neue Rechtslage gefährlich ist, zeigte sich nur wenige Tage später. In der nordtürkischen Stadt Amasra kam es zu einem Grubenunglück mit mindestens 41 Toten. Bereits 2019 waren die schlechten Sicherheitsbedingungen in der staatlich-betriebenen Mine in einem Bericht des lokalen Rechnungshofes kritisiert worden. Nur kurz nach Bekanntwerden der Explosion wurden Ermittlungen gegen zwölf Social-Media-User eingeleitet, die über das Unglück gepostet hatten. Laut der Sicherheitsbehörden hätten sie „provokante Beiträge geteilt und zu Hass aufgerufen“.
Derweil bereitet sich die Opposition auf die anstehenden Wahlen vor. Nach zuletzt öffentlich gewordenen Unstimmigkeiten zwischen den Bündnismitgliedern des sogenannten „Sechser-Tisches“ trafen sich die Parteivorsitzenden zu einem Gespräch. Ein gemeinsamer Präsidentschaftskandidat oder eine Präsidentschaftskandidatin wurde bisher noch nicht ernannt. Dafür preschte der CHP-Vorsitzende Kılıçdaroğlu mit einem Gesetzesentwurf vor, der das persönliche Recht zum Tragen eines Kopftuchs in der türkischen Öffentlichkeit garantieren soll. Beobachter sehen darin ein klares Signal auch an religiösere Wählerschichten.
Auf der Straße solidarisieren sich Frauen aus der Türkei mit der iranischen Protestbewegung. Gemeinsam mit iranischen Frauen skandierten sie in Istanbul und Ankara den von Kurdinnen geprägten Slogan „Jin jîyan azadî“ (Frauen, Leben, Freiheit) im Gedenken an die von iranischen Sicherheitskräften getötete Mahsa (Jina) Amini. Bei der Demonstration auf der Sakarya-Straße in Ankara verhinderte die Polizei gewaltsam, dass ein Statement verlesen wurde und nahm zahlreiche Menschen in Gewahrsam.
Trotz zunehmend harscheren Umständen: Die Zivilgesellschaft in der Türkei bleibt aktiv.